Lied des Tages: Johnny Cash: "Hurt"
Aufgewachsen im Wallis, erzogen zur Demut, trainiert zur Selbstanklage. Wenn der Körper versagt, meldet sich nicht nur die Medizin – sondern auch die alte Stimme im Kopf.
Wer im Lotto gewinnt, fragt nicht nach seiner Schuld an diesem (Un)Glück. Er nimmt den Gewinn entgegen, staunend vielleicht, aber ohne Reue.
Doch was, wenn man das Gegenteil trifft? Wenn man bei einer Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million nicht das Glück, sondern eine Krankheit erwischt? Wenn das Los, das man gezogen hat, nicht Freude bringt, sondern Furcht – fragt man dann nach Verantwortung? Nach Schuld?
Nicht Schuld im strafrechtlichen Sinn, nicht einmal im moralischen. Sondern etwas, das tiefer geht. Etwas, das sich nicht begründen lässt – nur fühlen. Die Frage, ob ich verantwortlich bin für meinen Zustand, für diese Krankheit, die in mir arbeitet: still, radikal, ohne Erklärung.
Ich bin katholisch aufgewachsen. Schwarz, wie man im Wallis sagt – wie die Soutanen der Priester, wie das Gewissen nach der Beichte, wie der Blick der Nonnen, wenn man ihn nicht senkte. Ich habe gelernt: Wer leidet, sühnt. Wer krank wird, zahlt. Für etwas. Vielleicht für alles.
Diese Vorstellung sitzt in mir wie ein altes Lied, das ich nicht mehr bewusst höre, das mich aber durchdringt. Es wurde nicht diskutiert, nur gelebt. Der Körper ist nicht neutral – er ist Bühne, Schlachtfeld, Reliquie. Und wenn er versagt, fragt etwas in mir: Was hast du getan, dass du krank bist? (Schlimmer hielten es die Pfaffen nur noch nur mit der körperlichen Lust. Davon vielleicht demnächst mehr.)
Ich weiss, wie absurd das klingt. Ich kenne die Medizin, die Statistik, die Gene, die Zufälle. Und doch spricht diese alte Stimme, besonders wenn ich allein bin: Vielleicht hast du versagt. Vielleicht ist es deine Schuld. Vielleicht ist es eine Prüfung.
Ich versuche, mich davon zu lösen. Aber die "ein gepeitschte" Frage nach der Schuld ist klebrig. Sie haftet selbst an den klarsten Gedanken. Und sie passt so gut zur Schwere, die Krankheit mit sich bringt.
Ist meine Krankheit eine Sühne?
Diese Frage hilft mir nicht. Sie erklärt nichts. Ich stelle sie trotzdem, um verständlich zu machen, woher meine Gedanken kommen – wie tief Herkunft, Erziehung und vor allem religiöse Dogmen wirken. Ich habe mich früh davon gelöst - glaubte ich - doch stelle ich fest, wie tief dieses Denken sitzt
Mein Fazit: Ich bin krank, weil ich lebe. Ich bin eine Variante des Lebens unter vielen. Und Leben ist nie ohne Risiko.
Wenn ich "sühne", dann eher nicht für Sünden, sondern für all das, was ich mir selbst verwehrt und unterlassen habe – im stummen Gehorsam gegenüber einer Herkunft, einer Religion, die mich noch immer anblickt, wie (so absurd es klingen mag): verhöhnend, vorwurfsvoll, unbewegt, unausweichlich, lustfeindlich, und kalt.
Simone Weil, erzkatholisch wie, bringt es auf Ihren Punkt:
„Das Unglück zwingt die Seele, sich nach unten zu beugen, aber in dieser Demut kann sie das Licht berühren.“
Nicht mit mir, Simone!
Wer sich in "schwarze Pädagogik) vertiefen will, lese:
Lloyd de Mause: Hört ihr Kinder weinen