Tag 6: Ich erinnere Kühe

Veröffentlicht am 26. Mai 2025 um 17:02

Lied des Tages

Silivie Vartan Mister John B

Heute erreichte mich eine Nachricht, die mich tief berührte: Mein Vetter Johann hat mir gute Besserung gewünscht. Eine schlichte, herzliche Mitteilung – und doch hat sie vieles in mir bewegt. Sofort tauchten Bilder aus unserer Kindheit auf. Die vielen Nachmittage, an denen wir die Kühe „hüteten“, am Bachufer spielten, Steine übers Wasser springen liessen oder einfach unter dem Apfelbaum lagen und uns Geschichten ausdachten.

Und dann die Sommer auf der Alp – eine Welt für sich. Ich sehe uns wieder vor mir: barfuss im feuchten Gras, das frühe Aufstehen, wenn der Morgen noch still war und Nebelschwaden zwischen den Hängen schwebten. Der Gang in den Stall, das rhythmische Geräusch beim Melken, die Wärme der Kühe, ihr ruhiges Atmen, ihr Blick – scheinbar gleichgültig, aber voller stiller Präsenz. Sie hatten etwas Erdendes, diese Tiere. Ihre Gleichmässigkeit, ihre Wiederkäu-Ruhe – sie standen im Kontrast zu unserer jugendlichen Ungeduld, unserem Bewegungsdrang. Vielleicht haben wir von ihnen mehr gelernt, als wir damals begriffen.

Ich erinnere mich auch an die "waghalsigen" Skitouren im Winter. Unerschrocken stapften wir los, mit einem gesunden Mass an Übermut und einem unsicheren Gespür für die Grenzen. Die Kälte, das Knirschen des Schnees unter den Brettern, das Ziehen in den Beinen – all das war Teil eines intensiven Lebensgefühls. Wir waren überzeugt, dass uns nichts passieren konnte.

Nicht alles war harmonisch. Ich denke auch an einen Streit, der uns einmal entzweit hat. Die Worte fielen schnell, vielleicht zu schnell. Es ging, wie so oft, um etwas Nebensächliches – aber es berührte einen wunden Punkt. Ich erinnere mich an das Schweigen danach, das schwerer wog als der Zorn. Und auch an die wortlose Annäherung, das stille Verzeihen. Es war nicht das letzte Mal, dass ich lernte: Nähe und Konflikt gehören zusammen.

All diese Erinnerungen – die schönen, die aufregenden, die schmerzlichen – sind Teil meiner Biografie. Sie lassen mich spüren, dass ich gelebt habe. Und sie werfen eine alte Frage auf: Leben wir, weil wir uns erinnern? Oder erinnern wir uns, weil wir leben?

Vielleicht ist beides wahr. Erinnerungen sind mehr als gespeicherte Bilder. Sie sind gelebte Wirklichkeit, konservierte Erfahrung, inneres Eigentum. Ohne sie wäre mein Leben wie ein Buch ohne Seiten – leer, unlesbar.

Die Kühe, die Kindheit, der Streit, die Stille der Berge – sie alle sind Teil meiner Geschichte. Und so bedeutet auch Johann für mich mehr als nur ein Vetter. Er ist ein Stück meiner Vergangenheit, ein lebendiger Anker in meiner Erinnerung. Und allein diese kleine Nachricht von ihm hat mir gezeigt, wie viel in einem einzigen Gruss mitschwingen kann – wenn das Herz mitliest.