Zwischen Vorsehung und Statistik – Gedanken am Beginn der Chemotherapie
Was heilt – das ist heute eine hochkomplexe Angelegenheit. Ich stehe am Beginn einer Chemotherapie und finde mich in einem Netzwerk aus Spitzenmedizin, Pharmakologie, Protokollen, Studien und Wahrscheinlichkeiten wieder. Es ist beeindruckend, was moderne Medizin heute vermag. Und es ist zugleich ernüchternd, wie wenig davon sich mit Sicherheit vorhersagen lässt. Bei aller Wissenschaft, das wahre Leben herrscht über die Wahrscheinlichkeit.
Ich bin in guten Händen. Fachlich, menschlich. Die Präzision und Professionalität im Universitätsspital Zürich gibt mir Vertrauen. Und doch: Auch hier gibt es keine Garantien. Man arbeitet mit Prozentwerten, mit Erfahrungswerten, auch mit Hoffnungen, die auf Daten ruhen. Ich bin Teil einer Statistik geworden – und gleichzeitig ein Individuum mit einem einmaligen Verlauf und einer eigenen Disposition. Beides zu akzeptieren, fällt nicht leicht.
Zwischen der Krankheit und mir steht nun ein chemisches Arsenal. Substanzen, die (aggressiv) eingreifen, zerstören, um zu retten. Heilung ist hier ein Balanceakt – ein (wohl) kalkulierter Angriff, bei dem auch gesunde Anteile des Körpers in Mitleidenschaft gezogen werden (Haare: die wenigen, diebisch noch habe, würde ich gerne behalten). Ich habe mich bereit gemacht, diesen Weg zu gehen. Aber nicht ohne Fragen und Zweifel.
Was trägt mich, wenn ich Kontrolle abgebe? Was gibt mir Halt, wenn der Körper sich verändert, wenn Müdigkeit, Nebenwirkungen und Zweifel überhandnehmen? Ist es Vertrauen in die Wissenschaft? In die Menschen, die mich begleiten? Die Liebsten, die um mich bangen. Oder ist es ein tieferes, irrationales Gefühl, dass es gut gehen könnte, weil es eben manchmal gut geht? Wie sang Hannes Wader doch in seinem Lied > ‚Damals‘: … Träume halfen mir mehr als mein Verstand…!“. So geht es mir gerade auch, meine Träume machen mich zuversichtlich. Der Verstand stört eher und lässt mich zweifeln.
Zwischen Vorsehung und Statistik, zwischen Sinnsuche und nüchterner Medizin bewege ich mich wie auf einem schmalen Grat. Ich spüre meine Endlichkeit – klarer als zuvor. Und gleichzeitig wird mir bewusst, wie sehr das Leben gerade jetzt gelebt werden will.
Ich weiss nicht, ob diese Krankheit „einen Sinn“ hat. Das habe ich mich eigentlich nie gefragt. Was ist, hat Sinn. Ich bin auch vorsichtig geworden mit schnellen Antworten oder Lebensweisheiten. Aber ich weiss, dass ich Ordnung suche – in dem, was geschieht. Eine innere Ordnung, ein Deuten dessen, was mir widerfährt. Vielleicht entsteht diese Ordnung nicht durch Erklärungen, sondern durch das Durchhalten selbst. Durch das, was sich zeigt, wenn man es zulässt.
Was ich sicher weiss: Ich hoffe. Noch immer. Und trotz allem. Und ich bin dankbar – für jeden Tag, an dem ich denken, schreiben, spüren, lachen kann.
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Kommentare
Ich habe (wie wahrscheinlich die meisten) Hemmungen, auf diesen beeindruckenden Blog von Bernhard einen Kommentar abzugeben, mir fehlen auch die passenden Worte, aber die Schilderungen sind emotional so nachfühlbar und so gut beschrieben, dass ich Bernhard ermuntern möchte, uns weiterhin an seinem Behandlungs - und hoffentlich gänzlichen Heilungsweg teilnehmen zu lassen 🙏🙏🙏
Mit Umarmung 🤗❤️
Liebe Bernhard
Deine Beiträge sind sehr eindrücklich und gefühlt ehrlich - ich denke du bist daran dein erstes philosophisches Buch zu schreiben - mit viel Talent.
Bin auf die weiteren Gedanken und Eindrücke gespannt - herzlichen Dank🙏
Lieber Bernhard
Da schlummert ja ein riesiges verstecktes Talent. Ich finde es eindrücklich und sehr emotional wie du deine Tage und die Erlebnisse und Gedanken beschreibst. Es ist ein echtes Highlight deine Zeilen zu lesen, mach weiter so!!
Und es bleibt dabei, ich drück dir weiter ganz doll beide Daumen 👍
Mach’s gut, ich bin in Gedanken bei dir
Mit einem herzlichen Gruss und einer innigen Umarmung
Sepp